INTENSIVkinder zuhause e.V. zu RISG


Der Elternselbsthilfeverein INTENSIVkinder zuhause e.V. vertritt seit 20 Jahren Familien, die ein von Intensivpflege betroffenes Kind zuhause versorgen.

Bis vor 20 Jahren lebten von Langzeitbeatmung abhängige Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene häufig über Jahre auf Intensivstationen von (Kinder-) Kliniken. Aufgrund der hohen Infektionsgefahr hatten sie keine gute Prognose, ihre Ressourcen und Potenziale konnten nicht angemessen gefördert werden und wegen fehlender Teilhabe am Leben der Gemeinschaft hatten diese Kinder und Jugendliche kaum Perspektiven.

Die Versorgung im Haushalt der Eltern und später ein selbstbestimmtes Leben wurde möglich
• zum einen durch den medizinisch-technischen Fortschritt und den Fortschritt der Beatmungstechnologie,
• zum anderen aufgrund unserer Gesetzgebung, welche die Krankenbeob- achtung und Überwachung beispielsweise einer gestörten Atemtätigkeit als Behandlungspflege definiert, was den Einsatz examinierter Pflegekräfte im eigenen Haushalt, in der Schule und Kita und später im beruflichen Alltag ermöglicht.
Die Verordnung häuslicher Krankenpflege garantiert, dass unsere Kinder, von Pflegepersonal begleitet, zuhause mit ihren primären Bezugspersonen aufwachsen und nach ihren Möglichkeiten am Leben der Gemeinschaft teilhaben. Junge beatmete Erwachsene sind heute in Deutschland dank ambulanter Pflegedienste oder persönlicher Assistenz in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens präsent.

Mit Entsetzen haben wir den Text des Referentenentwurfs zum Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz (RISG) zur Kenntnis genommen. Dieser gibt vor, technologieabhängige Personen, zukünftig besser zu schützen und qualitativ besser zu versorgen. Tatsächlich bleibt unseren intensivpflichtigen Kindern nach Vollendung des 18. Lebensjahres nur eine Übergangsfrist, bis ihnen de facto alle Selbstbestimmungsrechte entzogen werden sollen.1 Dieser Schutz betrifft wohl hauptsächlich die teilweise verrufene Betreuung und Versorgung in sogenannten Beatmungs-WGs, die in der letzten Zeit häufiger in der Presse waren. Die Betrugsfälle im Zusammenhang mit der außerklinischen Intensivpflege stehen unserer Meinung nach im Zusammenhang mit der radikalen und gewollten Kommerzialisierung unseres Gesundheitswesens. Mithilfe des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen und der Strafverfolgungsbehörden sollte es möglich sein, Missbrauch und Betrugsfälle zu ermitteln und zu sanktionieren. In diesem Bereich gibt es bereits rechtliche Maßnahmen und Kontrollinstanzen, die durchgesetzt und angewendet werden müssen. Auch wir haben ein großes Interesse daran. Deutlich machen möchten wir jedoch auch, dass nicht alle Pflegedienste über einen Kamm geschoren werden dürfen. Hier wurde der Schutz vor den sogenannten ‚schwarzen Schafen‘ der Branche ins Auge gefasst. Es gibt aber auch eine Vielzahl an Diensten, die korrekt abrechnen, qualifiziertes Personal vorhalten und ihr Bestes geben bis sie mit den Kapazitäten im heutigen Pflegenotstand immer mehr an ihre Grenzen stoßen und an dieser Stelle immer mehr Angehörige Pflegeleistungen übernehmen müssen.

Von der Erbringung der Intensivpflege in Kitas und Schulen für Kinder beziehungsweise an Universitäten und Arbeitsplätzen für junge Erwachsene ist im Referentenentwurf keine Rede mehr. Wird der regelhafte Anspruch auf Intensivpflege in Bildungseinrichtungen, Werkstätten und am Arbeitsplatz aus dem § 37 SGB V durch Sonderregelungen ersetzt, werden die derzeitigen Rechte beatmeter Menschen extrem beschnitten.

Trotz überwachungspflichtiger Vitalparameter und der Abhängigkeit von Beatmung muss nach geltendem Recht das soziale System im Fokus bleiben. Autonomie, individuelle Bedürfnisse, Förderung aller Entwicklungs- und Rehabilitationspotenziale sowie die soziale Teilhabe der jungen Erwachsenen, sind gegenüber den medizinischen und pflegerischen Notwendigkeiten als gleichrangig zu betrachten.

Eine Betrachtungsweise, die behinderte und von außerklinischer Intensivpflege abhängige junge Erwachsene zwangsweise vollstationären Pflegeeinrichtungen zuweist, kommt einem Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechtes, des Selbstbestimmungsrechtes und des Entzugs des Rechts auf Freizügigkeit gleich. Der Gesetzentwurf schützt nicht, sondern er verstößt gegen das Grundgesetz und den Artikel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention auf eine selbstbestimmte Lebensweise, voller Teilhabe an der Gesellschaft und der Selbstbestimmung des Aufenthaltsortes. Außerdem wird das Recht junger Menschen missachtet, eine Ausbildung oder Beschäftigung entsprechend ihren Neigungen und Eignungen aufzunehmen oder fortzusetzen.

Die Verordnung über häusliche Krankenpflege für beatmete Patienten sollen nach dem Gesetzentwurf auch für Kinder nicht mehr im Rahmen der hausärztlichen Versorgung verordnungsfähig sein, sondern nur von „qualifizierten Vertragsärzten“ ausgestellt werden dürfen. Bis diese „Vertragsärzte“ mit Expertise im Bereich der außerklinischen Beatmung im ambulanten Bereich und in ausreichender Zahl benannt und verfügbar sind, muss weiterhin der allgemeine Kassenarztvorbehalt gelten.

Junge intensivpflichtige Erwachsene leben heute noch in ihren Familien und inmitten der Gesellschaft. Sie zukünftig – ohne Wahl – in vollstationärer Pflege unterzubringen, würde für viele einem Todesurteil gleichkommen, da beatmete und tracheotomierte Menschen immer immunsupprimiert sind und in stationären Pflegeeinrichtungen zu der am stärksten gefährdeten Patientengruppe gehören. Das gewohnte, häusliche Keimspektrum ist für diesen Personenkreis hingegen nahezu unbedenklich. Aufgrund der erworbenen Expertise von Angehörigen und dem Pflegepersonal in der Häuslichkeit können Infekte und Krisen frühzeitig erkannt, gut beherrscht und behandelt werden, während Einrichtungen und Pflege-WGs ihre Patienten bei jeder Unklarheit oder Krise über die notärztliche Versorgung den Rettungsstellen zuführen. Auch ökonomisch macht der Grundsatz ambulant vor stationär Sinn, denn die häusliche Krankenpflege hat das Ziel, den ärztlichen Behandlungserfolg zu sichern und Klinikaufenthalt zu vermeiden. Zudem übernehmen die meisten Angehörigen selbst Pflegezeiten sowie Aufgaben professioneller Sozialarbeit und sind aus ureigenstem Interesse ein hoher Garant für qualitative und sichere Versorgung.

Abgesehen davon rechnen wir bei der Umsetzung dieser Reform mit schwersten psychischen Traumatisierungen, Depressivität und Suizidalität für alle von der Situation betroffenen Personen sowie deren Angehörigen – nicht nur für diejenigen, die ihre Situation kognitiv reflektieren können.

Viele unserer Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen haben eine lebenslimitierende Erkrankung (Langzeitbeatmung im Sinne einer Organersatzbehandlung ist per se lebenslimitierend.). Hier soll Familien die Möglichkeit genommen werden, die begrenzte Lebenszeit ihrer Angehörigen, gemeinsam und in größtmöglicher Selbstbestimmung zu verbringen.


Seit Jahren steigt die Zahl der außerklinisch beatmeten Menschen in Deutschland stetig aufgrund des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und demografischer Entwicklungen. Von den Fachgesellschaften wird dies seit Jahren mit Zahlen und Studien belegt und im Quartalstakt veröffentlicht, jedoch bisher ohne Folgen für ein Care Management auf Bundesebene:

• der Entlassungsdruck der Kliniken unter dem DRG-System,

• der finanzielle Anreiz für die zeitnahe, erneute Wiederaufnahme 
(Paternostereffekt)

• die Verpflichtung zum Entlassungsmanagement unter enormen Zeit- und Kostendruck, die Fehlversorgungen provozieren,

• fehlende Kapazitäten in der Anschlussheilbehandlung,

• fehlende Weaningbetten,

• haus- und fachärztliche Unterversorgung und

• fehlende ambulante Behandlungsstrukturen und der akute Pflegekräfte- Notstand insbesondere bei den Kinder-Intensivpflegekräften.


Unsere Kinder sollen nun mit ihrer zwangsweisen, vollständigen Exklusion für diese Versäumnisse bezahlen: Mit hohem, intensivmedizinischem und ökonomischem Aufwand rettete man vor Jahren ihr Leben und rettet immer weiter Patienten – jung wie alt. Beatmungsgeräte, der Rechtsanspruch auf häusliche Krankenpflege und der Grundsatz ‚ambulant vor stationär‘ ermöglichten ihr Überleben und Aufwachsen im privaten Umfeld. Elterliche Fürsorge gab ihnen einen guten Platz im Leben. Kita, Schule und gemeinschaftliche Teilhabe verschaffte ihnen Lebensqualität und gab ihnen eine Zukunftsperspektive.


Die geplante Zwangsunterbringung junger, behinderter Menschen als vermeintliche Lösung der existierenden Probleme und Missstände in der außerklinischen Intensivpflege entbehrt jeder Logik!


Lösungsansätze sehen wir in der Entwicklung von neuen Versorgungsansätzen zur Unterstützung der 1:1-Betreuung. Es muss Wahlmöglichkeiten geben, wie ein erwachsener, beatmeter Mensch leben will. Hier sehen wir zum einen großes Potenzial in der Ausgestaltung des Persönlichen Budgets zur individuellen Versorgung sowie auch in unterschiedlichen Wohnformen mit Versorgungsangeboten.


Um eine flächendeckende, fachlich qualifizierte ärztliche ambulante Versorgung für außerklinisch beatmete Kinder und Jugendliche zu gewährleisten, schließen wir uns außerdem der Empfehlung der DIGAB bezüglich des Vorschlages an, ein Konzept analog der ambulanten Palliativversorgung (SAPpV) zu etablieren.


In vollem Vertrauen auf die humanitären Grundwerte unseres Rechtsstaates hoffen wir, dass dieser Gesetzentwurf keine einzige Instanz überwinden wird!


Wir verweisen auf die Positionspapiere der Fachgesellschaften Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft außerklinische Beatmung (DIGAB) sowie dem Kompetenznetzwerk für außerklinische Intensivpflege Bayern (KNAIB).
Für Rückfragen stehen die Vorstandsmitglieder zur Verfügung.
Domenique Geiseler (1. Vorstandsvorsitzende) 


1 An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass auch heute diese Selbstbestimmung nicht unbedingt gewährleistet wird. Bisher gibt es gar nicht genug zuverlässige, betreute Wohnplätze in Einrichtungen, die beatmete Menschen medizinisch, pflegerisch und pädagogisch aufnehmen können und wollen. Nicht umsonst leben häufig die erwachsenen Kinder lange über das 18. Lebensjahr hinaus bei den Eltern, weil eben diese Versorgungsstruktur gar nicht gegeben ist.

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